Erstnachweis und Beobachtungen zur Biologie des Filzkraut-Schildkäfers
Cassida seladonia GYLLENHAAL, 1827 in Hannover (Niedersachsen)


Text und Fotos © Tina Schulz, 2021


Ein warmer Frühsommertag, ein langer Streifzug durch die Natur. Wieder zuhause, sitzt auf einmal eine Raupe auf der Hose; ein blinder Passagier. Welcher Naturfreund kennt das nicht? Auch über das Wunder eines per Substrat ungewollt eingeschleppten Insekts staunen wir bisweilen. Manchmal ist so ein Gast unwillkommen, etwa wenn er sich ungeniert über unsere eigentliche Zucht hermacht und wir ihn erst spät festsetzen, um ihm die Leviten zu lesen und ihn anschließend hinauszukomplimentieren.

halbwüchsige Larve von Cassida seladonia
Abb. 1: Mit Filzkraut in den Garten verschleppte halbwüchsige Larve von Cassida seladonia, entdeckt am 18. Juni 2019.

Manchmal aber ist solch ein Zufallsfund erst der Auftakt zu etwas Größerem. Im Frühjahr 2019 bestückte ich ein Beet im Garten mit heimischen Pflanzen, die ich aus der Umgebung zusammensuchte. Darunter war auch ein Filzkraut (Filago minima): ein sehr zierliches, silbriges Gewächs mit unscheinbaren Blüten, das ich von einem Magerrasen mitten in Hannover (30 km entfernt) geholt hatte – einem für hiesige Verhältnisse sehr wertvollen Biotop, das ungeachtet dessen leider als größtes Hundeklo der Stadt missbraucht wird.

Erster Fund einer Imago von Cassida seladonia
Abb. 2: Erster Fund einer Imago von Cassida seladonia am 19. Juni 2019 in Hannover, auf stark befressenem Kleinem Filzkraut (Filago minima).

Am Abend des 18. Juni 2019 entdeckte ich daran eine Käferlarve (s. Abb. 1). Ihre typische, mit alten Hautresten und Kot beladene "Schwanzgabel" (bestehend aus zwei langen Dornfortsätzen) schützend über ihren Körper legend, wurde sie von mir gleich als Schildkäfer (Cassida sp.) erkannt. Die anschließende Recherche brachte die für mich äußerst erstaunliche Erkenntnis, dass es sich um Cassida seladonia, den Filzkraut-Schildkäfer handeln müsse. Eine eng oligophage Art vor allem an Filzkraut, weniger an Strohblume und Ruhrkraut, die bisher in Deutschland nur an sehr wenigen Stellen gefunden wurde und auf der Roten Liste auf Rang 1 steht, also "vom Aussterben bedroht" ist [RHEINHEIMER & HASSLER, 2018].

Natürlich brach ich sofort am nächsten Tag nach Hannover auf, und entdeckte prompt einen adulten Käfer im Blütenstand eines Filzkrauts (s. Abb. 2)!

Damit war der Samen der Begeisterung gesät. Durch meine Bemühungen erschienen weitere Imagines und Larven auf der Bildfläche (letztere wieder zum Teil mit weiteren zur Zucht herangeschafften Pflanzen eingeschleppt), und ich stürzte mich voller Eifer in die Beobachtung der Tiere.

Zunächst aber möchte ich den Fundort genauer beschreiben. Bei der Kugelfangtrift – samt dem angrenzenden Segelfluggelände, das allerdings etwas nährstoffreicher ist – handelt es sich um ein 60 ha umfassendes Landschaftsschutzgebiet in Hannover-Vahrenheide. Es herrscht bodensaurer Magerrasen (Borstgrasrasen und Sandmagerrasen) vor, mit eingebetteten, zeitweise wasserführenden Kleingewässern, die wohl durch Schießübungen entstanden sind. Von 1890 bis kurz vor der Jahrtausendwende unterlag das Gebiet militärischer Nutzung.

Fraßspuren von Cassida seladonia an Filago minima
Abb. 3: Fraßspuren von Cassida seladonia an Filago minima. Sichtbare Larven sind mit Pfeilen markiert.

Tarnung der jungen Larven von Cassida seladonia
Abb. 4: Bemerkenswerte Tarnung der jungen Larven von Cassida seladonia, welche sich in Ruhephasen an der Basis der Wirtspflanze aufhalten.

Die extreme Nährstoff- und Kalkarmut und die schnelle Austrocknung des Erdreichs, die den Verbuschungsprozess stark entschleunigen, lassen sich auch darauf zurückführen, dass es in der Vergangenheit nie Ackerbau gegeben hat. Als Bodentyp herrscht Podsol vor. Durch zeitweilig hoch ausstehendes Grundwasser, welches reich an Eisen und Aluminium ist, findet unter der Oberfläche die Bildung von Raseneisenerz statt – abweichend von der sonst typischen Ausprägung des Podsol [LANDESHAUPTSTADT HANNOVER, 2001]. Charakteristische Pflanzenarten des Gebiets sind zum Beispiel Sandbirke (Betula pendula), Kriech-Weide (Salix repens), Besenheide (Calluna vulgaris), Borstgras (Nardus stricta), Frühe Haferschmiele (Aira praecox), Kleiner Sauerampfer (Rumex acetosella), Hunds-Veilchen (Viola canina), Heide-Nelke (Dianthus deltoides), Sand-Grasnelke (Armeria maritima ssp. elongata), Harzer Labkraut (Galium saxatile), Englischer Ginster (Genista anglica), Sand-Strohblume (Helichrysum arenarium), Frühlings-Spörgel (Spergula morisonii), und eben das Kleine Filzkraut (Filago minima), die Wirtspflanze von Cassida seladonia.

Der Fraß an der Nahrungspflanze äußerte sich wie folgt: die Larven wühlten sich unter die dichte Haarschicht und schoben sie beim Abweiden eines Blattes wie eine Bugwelle vor sich her. Zurück blieb ein fluffiger Flaum. Die Blätter wurden zum Teil vollständig verspeist; auch Blüten wurden nicht verschmäht, sobald sie vorhanden waren (s. Abb. 3). Diesen von der Pflanze abgehobenen Haarsaum entdeckte ich auch bei der Larvensuche im Biotop recht häufig, aber es waren kaum je welche am selben Stängel zu finden. Die Tiere schienen also ihren Standort häufig zu wechseln, was auch Sinn ergibt, da viele Filzkraut-Individuen nur einstängelig bleiben und dann nicht viel Nahrung abwerfen. Bei der Dichte ihrer Wirtspflanzen im Biotop sollte das Vagabundieren auch kein Problem darstellen.

Der Kotschild wurde von den jüngeren Larven stets schützend über ihren Körper gehalten (s. Abb. 4 & 5). Er bestand etwa zu gleichen Teilen aus eigenen Exkrementen und den abgelegten Häuten vergangener Stadien, ist typisch für die Unterfamilie Cassidinae und dient nach RHEINHEIMER & HASSLER (2018) zur Abschreckung von Fressfeinden sowie zur Tarnung. Ausgewachsene Larven hingegen bedeckten sich oft nicht, auch bei leichter Störung blieben sie meist entspannt. Die jüngeren Stadien waren gelbbraun gefärbt, erst gegen Ende der Entwicklungszeit, vermutlich erst im letzten Kleid wurden die Käferlarven grün (s. Abb. 5). Während die Tiere auf Nahrungssuche umherstreiften, vibrierten sie mit ihrer Schwanzgabel in anschwellenden, miteinander verschmelzenden Intervallen.

Cassida-seladonia-Larven zunehmenden Alters.
Abb. 5: Cassida-seladonia-Larven zunehmenden Alters. (a): Larve im ersten Stadium (L1), daran erkennbar, dass sie auf ihrer Schwanzgabel noch keine abgestreifte Haut trägt. (e): Aufgrund der fast gänzlichen Abwesenheit von Kot ist die Stapelung der Exuvien bei diesem Exemplar außergewöhnlich gut sichtbar. Es ist daher als L5 einzuordnen – frisch gehäutet, aufgrund des noch überproportional großen Kopfes. (f): Ausgewachsene, nun grüne Larve im letzten Stadium.

Zwei verpuppungsreife Larven setzten sich in meiner Zucht kopfabwärts am Blütenstängel beziehungsweise im Blütenstand fest und entledigten sich ihres Kotschildes (s. Abb. 6). Am 24. Juni 2019 hatte sich die Erste verpuppt, und am 30. Juni 2019 glitt der Käfer aus der Puppenhülle (s. Abb. 7). Das deckt sich recht gut mit der Angabe von RHEINHEIMER & HASSLER (2018), wonach die neue Generation ab Juli/August schlüpfen soll.
Frische Imagines waren noch fast vollständig grün (bis auf die schwarzen Augen, Mundwerkzeuge und Fühlerspitzen) und wirkten sehr ätherisch. Erst nach einigen Stunden dunkelten weitere Körperbereiche nach (s. Abb. 8).

Die letzten Schritte zum Käfer.
Abb. 6: Die letzten Schritte zum Käfer. (a): Ausgewachsene Larve; sie hält ihren Kotschild nicht mehr permanent schützend über sich. (b): Zur Verpuppung kopfunter festgesetzte Präpuppe; sie hat sich ihres Kotschilds bereits entledigt. (c): Kopfabwärts am Pflanzenstängel ruhende Puppe. Das letzte Larvenkleid, das während der Häutung zur Puppe am rückwärtigen Ende zusammengeschoben wurde, unterscheidet sich farblich von den ähnlich stachligen seitlichen Auswüchsen der Puppe. (d): Puppenexuvie, nachdem der Käfer geschlüpft ist.

Schlupf des adulten Käfers
Abb. 7: Schlupf des adulten Käfers (die letzten Sekunden). Noch klaffen die Flügeldecken an der Spitze auseinander, aber nur sechs Minuten später hatten sie ihre endgültige Form angenommen (siehe Abb. 8b1).

Der Reifungsprozess.
Abb. 8: Der Reifungsprozess. Die Bilder (a1) und (b1) zeigen einen frisch geschlüpften (immaturen) Cassida seladonia. Auf (a2) und (b2) ist die fertig ausgefärbte, reife Imago zu sehen.

Bei der Haltung der Tiere wurde versucht, die starke Sonnen- und Wärmeexposition ihres Habitats so gut wie möglich zu imitieren. In einen doppelt so hohen wie breiten transparenten Plastikzylinder pflanzte ich Filzkraut auf Sand, deckte ihn für einen guten Luftaustausch mit grober Gaze ab und setzte ihn so fast ungeschützt den Elementen aus.

Da das sommer- oder winterannuelle Kleine Filzkraut sein Leben schon im Hochsommer aushaucht, gibt es für die Käfer der neuen Generation nicht mehr viel zu tun. Sie wurden bei mir Ende Juli/Anfang August inaktiv und zogen sich an den Grund der bereits verlebten Topfpflanze zurück.

Bis zu diesem Zeitpunkt waren meine drei einbehaltenen Exemplare, mit denen ich die Überwinterung wagen wollte, noch grün. Ich war sehr gespannt, wann sie sich "leuchtend rot" verfärben würden, wie RHEINHEIMER & HASSLER (2018) berichten – laut diesem Werk sollte das "nach längerer Zeit" geschehen.

Im besten Alter.
Abb. 9: Im besten Alter. (a1) und (a2) zeigen einen makellosen Freilandfund vom 21. Juni 2019 (Hannover), (b) bildet ein gleichfalls wunderschönes Zuchttier vom 30. Juni 2019 ab.

Nachdem ich die Inaktivität der Käfer eine Weile beobachtet hatte, entschloss ich mich, sie im Kühlschrank überwintern zu lassen – der hiesige eher von atlantischen Einflüssen geprägte Winter mit seinen starken Temperaturschwankungen vor allem an der südlichen Hausseite war mir zu unstet. Dazu setzte ich die Tiere in eine Plastik-Petrischale mit selten angefeuchtetem Küchentuch. Regelmäßig veränderten sie ihre Position im Gefäß, waren aber bei jeder Kontrolle immobil. Immer noch war keine flächige Rotfärbung zu erkennen. Nur ihr Grün wurde ein bisschen wärmer und es traten rötliche Flecken an den Schultern auf; auch die Flügeldecken- und Halsschildränder verbräunten etwas (s. Abb. 10).

Ältere Cassida seladonia
Abb. 10: Dieser "Alte", fotografiert am 31. Mai 2020 (a) bzw. am 17. Juni 2020 (b), hatte ein ganzes Jahr als Käfer überlebt: ich sah ihn am 7. Juli 2020 zum letzten Mal lebend.

Mitte April 2020 stellte ich fest, dass zwei der drei Käfer die Überwinterung nicht geschafft hatten; sofort setzte ich den Dritten ins Freie, an frisch eingetopftes Filzkraut. Der Überlebende – der nach einer Woche an der frischen Luft wieder fraßaktiv wurde – dachte noch immer nicht im Geringsten an eine Änderung seines grünen Kleides hin zu durchgehend strahlendem Rot. Das blieb so bis zu seinem Tode – am 7. Juli 2020 habe ich ihn zum letzten Mal lebend fotografiert. Beeindruckenderweise hat der Kleine also ein volles Jahr gelebt, was vielleicht auch dadurch begünstigt wurde, dass er sich nicht am anstrengenden Fortpflanzungsgeschäft aufreiben konnte, da er aufgrund von fehlender nachwinterlicher Gesellschaft keine Gelegenheit dazu bekam.

Da meine intensive Suche nach den Larven im Frühsommer 2019 nicht sonderlich von Erfolg gekrönt war – nur drei fand ich per Auge, drei schleppte ich unbemerkt mit Pflanzen ein – wurde am 26. Mai 2020 ein neuer Anlauf gestartet. Nach einer zunächst erfolglosen Anfangsphase stolperte ich zufällig über einen regelrechten Kindergarten: auf einem Areal von nur 20 qm entdeckte ich innerhalb von 1,5 h (ausgiebige Fotografie inbegriffen) 27 Larven von Cassida seladonia! Ein Tier war im ersten Stadium, eines war ausgewachsen, und alle anderen halbwüchsig (s. Abb. 5). Der Standort lässt sich als sanft geschwungene Bodenwelle von circa 40 cm über dem übrigen Niveau beschreiben (s. Abb. 11).

Kugelfangtrift (Hannover)
Abb. 11: An dieser Stelle auf der Kugelfangtrift (Hannover) wurden am 26. Mai 2020 nicht weniger als 27 Larven von Cassida seladonia gefunden.

Die meisten Larven saßen an der Basis der Pflanzen, die im Maximum 5 cm hoch waren. Zur Fundzeit (18–19 Uhr) waren einige mit der Nahrungsaufnahme beschäftigt. Die meisten saßen inaktiv unten am Filzkraut-Stängel und ließen sich gut durch das oben beschriebene Befallsbild aufstöbern – direkt an der geschädigten Pflanze oder in der Nähe.

Bei dieser großen Individuenzahl erhielt ich auch Gelegenheit, ihre Interaktion mit den Ameisen vor Ort zu beobachten. Den Käferfreund wird es freuen zu hören, dass diese Hautflügler zumindest dort keine Gefahr darzustellen scheinen. Obwohl sie auf der Kugelfangtrift relativ zahlreich vorkommen (leider kann ich nichts zum Artenspektrum sagen), schienen sie die Larven nicht zu bemerken beziehungsweise nicht als fressbar einzustufen: nach meiner Beobachtung betasteten sie nur kurz den Kotschild und wandten sich dann ab.

Die Larven von Cassida seladonia könnten hier möglicherweise sogar doppelt profitieren: sie werden vermutlich nicht nur von den Ameisen verschmäht, sondern dürften auch indirekt durch deren bloße Anwesenheit vor anderen räuberischen Arthropoden sicherer sein. Und sogar auf eigentlich harmlose Fotografinnen haben Ameisen einen abschreckenden Effekt.

Dank

Mein Dank gilt vor allem Dr. MICHAEL STERN von der Stiftung Tierärztliche Hochschule Hannover; er klopfte die Bestimmung am Beleg fest und schenkte mir seine Zeit für eine nette Exkursion ins Biotop. Auch dem übrigen kerbtier.de-Team sei gedankt für die vorsichtige Bestätigung meiner Bestimmung des ersten überraschenden Larvenfundes, von dem zu Beginn die Rede war.

Literatur

  1. LANDESHAUPTSTADT HANNOVER – Umweltdezernat (2001): Landschaftsschutzgebiete der Stadt Hannover. Schriftenreihe kommunaler Umweltschutz, Heft Nr. 34. 103 S.

  2. RHEINHEIMER, J. & M. HASSLER (2018): Die Blattkäfer Baden-Württembergs. 928 S. Karlsruhe (Kleinsteuber Books).